Wenn mitten in der Nacht das Telefon klingelt und ein hysterischer alter Mann verzweifelt um Hilfe fleht, weil sich neuerdings mysteriöse Dinge ereignen oder finster dreinschauende Kuttenträger die Straßen unsicher machen … dann ist es mal wieder an der Zeit, schnellstens ein Ticket nach Arkham zu buchen.
Villen des Wahnsinns zweite Edition (VdW) ist eine Art erzählendes Point-&-Click-Adventure, ähnlich wie T.I.M.E. Stories. Ich persönlich bevorzuge allerdings den Begriff „Rollenspiel mit Brettspielcharakter“. Die Story macht hier nämlich einen Großteil des Spiels aus. Das Grundspiel besteht aus 4 Szenarien unterschiedlicher Länge und Schwierigkeitsgrade, in denen wir dem Verlauf einer Geschichte folgen, Räume erkunden, Rätsel lösen und ganz nebenbei ein paar Monsterchen töten. Bedeutende Mechanismen gibt es in diesem Spiel nicht. Hauptsächlich wird auf verschiedene Skills gewürfelt – alles eher einfach gehalten. Villen des Wahnsinns will erlebt werden.
Unterschiede 1. und 2. Edition
Der größte Unterschied ist wohl die App, die fast das gesamte Spielgeschehen steuert. Darauf werde ich gleich noch ausführlicher eingehen. Und nun jauchzet und frohlocket: Der große Vorteil dieser 2. Edition ist, dass man nun keinen Overlord-Spieler mehr braucht und das Spiel so endlich auch solo spielen kann. Ansonsten ist wohl nur noch der Preisanstieg in Verbindung mit weniger Material zu vermelden. Ob die Programmierung der App oder steigende Produktionskosten daran schuld sind, kann ich nicht beurteilen. Negativ aufgefallen ist mir beim Material lediglich, dass die Monster-Pappmarker nur sehr schwer in die kleinen Bases reinpassen. Da muss man schon ein wenig aufpassen, dass man sie beim Montieren nicht verkratzt oder verknickt. Erst anschließend sollte man die Figürchen aufstecken und unbedingt festkleben. Oder noch besser: re-basen: spricht neue Bases besorgen und die Pappe neben das Spielfeld legen. Dem Spiel liegt außerdem ein Konversion Kit bei, um Monster und Ermittler der Erstauflage nutzen zu können.
Die App
Die App steuert wie gesagt fast alles in im Spiel: Spielaufbau, Monster, Rätsel … Ohne App ist das Spiel nicht spielbar und sie ist wirklich sehr dominant. So dominant, dass ich dazu neige, ab zwei Spielern entweder die erste Edition zu empfehlen oder einen App-Bediener zu bestimmen, der das Tablet nur bei Rätseln weiterreicht. Sonst starren nämlich alle Spieler permanent nur auf das Tablet und nicht auf den Tisch. Zeigte die App auch noch die Position der Spielfiguren an und könnte diese bewegen, wäre das Spiel vollkommen ohne Spielplan spielbar und der Charakter eines Brettspiels wirklich vollends zerstört. Spielen mit Smartphone funktioniert übrigens, ist aber aufgrund der Bildschirmgröße eher suboptimal. Ich persönlich empfand die App im Solospiel als sehr angenehm, allerdings scheint das sehr vom eigenen Geschmack abzuhängen. Zumindest kenne ich viele Spieler, die sich sehr daran gestört haben.
Vorteile/Nachteile
Die elektronische Steuerung hat aber auch viele Vorteile: man muss wesentlich weniger Regeln im Vorfeld lernen (auch wenn es mal wieder unnötigerweise 2 Regelhefte gibt), die Regeln insgesamt wurden entschlackt, die Hintergrundmusik sorgt für ordentlich Spannung und auch die vorgelesenen Einleitungstexte mit Soundeffekten tragen sehr viel zum Stimmungsaufbau bei. Da hätte ich mir sogar gewünscht, dass auch während des Spiels mehr Texte vorgelesen werden. Niemand weiß im voraus, welche Räume hinter dem nächsten Erkundungsmarker warten oder in welche Richtung man sich bewegen muss. Und man kann auch nicht vergessen Marker auszulegen, da diese permanent auf dem Bildschirm angezeigt werden. Das war übrigens der riesengroße Nachteil der ersten Edition: man konnte sich anhand der Kartenstapel ungefähr ausrechnen, welche Räume spielentscheidend sind und welche man nicht unbedingt zu untersuchen braucht. Das passiert hier garantiert nicht.
Immersion
Das ist der Fachbegriff für das Eintauchen in die Geschichte oder wie weit man sich mit den Protagonisten identifizieren kann. Ich bin zwar ein Fan von thematischen Spielen, tue mich mit dem Eintauchen in das Spielgeschehen aber häufig schwer. Deswegen brauche ich fast immer auch eine gute Mechanik: Mage Knight, Herr der Ringe LCG, Robinson Crusoe … Nun habe ich weiter oben aber bereits geschrieben, dass VdW nicht gerade durch herausragende Mechanismen besticht. Und genau das ist der Punkt, wie es zu meiner Endnote kommt: Villen des Wahnsinns hat mich in die Hintergrundgeschichte eintauchen lassen, wie bisher kein anderes Spiel. Und das liegt eben zu großen Teilen auch an der App. Dieser Spannungsaufbau ist einfach grandios, weil man nie weiß, was einen hinter der nächsten Tür erwartet.
Mechanik
Jeder Spieler steuert einen oder mehrere Ermittler, die jeweils unterschiedliche Skills und eine Sonderfähigkeit haben. Wir haben pro Ermittler und Spielzug zwei Aktionen zur Verfügung (Bewegen, Erkunden, Angreifen, Interagieren usw.), gefolgt von einer Mythosphase, in der gar schröckliche Dinge geschehen. Der Spielplan wird nach und nach aufgedeckt, und je nach Szenario gibt es unterschiedliche Ziele. Die möchte ich natürlich hier nicht spoilern. Immer wieder stellt uns das Spiel auf die Probe: dabei gibt es eine bestimmte Anzahl Erfolge, die wir erwürfeln müssen. Die Art der Probe (und unsere Skills) gibt vor, welche Anzahl Würfel wir dabei nutzen dürfen. Je nachdem, ob wir die Probe schaffen oder nicht, erzählt die App dann, was als nächstes passiert. Wir könnten Schaden/Horror erleiden, Gegenstände finden, ein Monster in die Knie zwingen und so weiter. Das Ergebnis der Würfelei können wir unter Umständen mit gefundenen Gegenständen beeinflussen, die uns Schaden negieren lässt, Hinweissymbole in Erfolge umwandelt und ähnliche Dinge.
Same procedure …
Im Prinzip ist das die einzige Mechanik. Ansonsten überlegt man eigentlich nur, wer was wann zuerst macht, um die Spezialfähigkeiten der Ermittler optimal zu nutzen. Aufgelockert wird das Ganze durch verschiedenartige Rätsel: Coderätsel, Bilderrätsel und Verschieberätsel. Fünf verschiedene Rätseltypen gibt es; leider unterscheidet sich eines der Bilderrätsel nur in der Anzahl der Versuche. Hier hätte ich mir einfach andere Bilder und mehr unterschiedliche Rätsel gewünscht. In einem Szenario hatte ich ein Rätsel dann gleich zweimal hintereinander, was dann schon etwas langweilig war. Ich kann nicht sagen, ob das wirklich so gewollt ist. Möglicherweise ist das noch ein Fehler des Zufallsgenerators(?) in der App. Apropos App: Ich hätte ich mir noch eine Undo-Funktion gewünscht. Ich habe mich nämlich zweimal während des Spiels vertippt und konnte dann nicht mehr zurückklicken. Glücklicherweise kann man die meisten Sachen im Protokoll nochmal nachlesen.
Skalierung
Die Skalierung des Spiels ist wirklich herausragend. Ich habe das Spiel mehrfach komplett durchgespielt (und einzelne Szenarien für die Rezi mehrmals durchgeklickt), sowohl mit zwei Ermittlern als auch mit vier Ermittlern, und die App passt den Schwierigkeitsgrad hervorragend an. Beispielsweise haben dann die Monster weniger Lebenspunkte. Es spielt also mehr oder weniger keine Rolle, ob ihr mit zwei oder fünf Ermittlern spielt. Nur solltet ihr im Solospiel mit mehreren Ermittlern auf die Spielerzahl der „Wahnsinnig“-Karten achten, weil einige sonst keinen Sinn ergeben.
Wiederspielreiz
Die einzelnen Szenarien des Grundspiels kann man zwar theoretisch mehrmals spielen, da der Spielaufbau immer minimal anders ist und auch die Gegenstände dann an anderen Orten liegen. Allerdings ähneln sich die Abenteuer ansonsten schon sehr und es macht beim zweiten Mal nur noch halb so viel Spaß. Außer man verhält sich beim erneuten Spiel völlig anders, dann gibt es durchaus mal eine Überraschung. Nur das Spielziel bleibt natürlich trotzdem dasselbe. Deshalb finde ich es auch sehr schade, dass im Grundspiel nur 4 Szenarien enthalten sind. Ich würde dazu raten, die Erweiterungen (alte oder neue Edition) mit einzubauen. Die Szenarien allein sind in meinen Augen max. zwei Mal (spannungsreich) spielbar. Ab dem dritten Anlauf sinkt für mich der Wiederspielreiz mit jedem weiteren Versuch stark ab. Das mag aber auch Geschmackssache sein.
Spieldauer
Beim ersten Anlauf dauerten bei mir einige Szenarien fast das Doppelte der angegebenen Spieldauer. Das macht Angst, wenn man sieht, dass ein Abenteuer mit bis zu 6 Stunden angegeben ist. Die Zeit habe ich letzten Endes übrigens nicht gebraucht. Seit dem dritten Anlauf schaffe ich das erste Szenario in nur 50 Minuten statt 150 Minuten (erste Partie), weil ich einfach weiß, wonach ich Ausschau halten muss. Daran hat sich auch mit den zusätzlichen Spielplanteilen aus der 1. Edition nichts geändert. Richtig Spaß gemacht hat mir deshalb also lediglich der allererste Versuch pro Szenario, bis ich die Lösung rausgefunden hatte. Dafür spielen sich die einzelnen Szenarien untereinander aber merklich unterschiedlich. Bereits jetzt gibt es ein zusätzliches In-App-Szenario, dass man für 4,99€ ( Anm. d. Red.: hat sich mittlerweile auf 5,49€ verteuert) dazukaufen kann. Zusammengefasst ist der Wiederspielreiz einzelner Szenarien zwar nicht ganz so krass beschränkt, wie beispielsweise bei T.I.M.E. Stories (nur einmal spielbar), aber auch nicht sonderlich hoch. Zumindest nicht, wenn man das Spiel in kurzer Zeit sehr oft hintereinander spielt.
Neuauflagen und Zusatz-Szenarien
Mit den Neuauflagen „Wiederkehrende Albträume“ (ehemals Grundspiel) und „Unterdrückte Erinnerungen“ (ehemals „Ruf der Wildnis“ und „Verbotene Alchemie“) kommen 2 neue Szenarien dazu. Natürlich kann man auch seine 1st Edition dafür nutzen, allerdings werden die Karten usw. nicht berücksichtig. Mit der ersten Erweiterung „Jenseits der Schwelle“ gibt es dann nochmal 2 Szenarien und ein weiteres DLC (Downloadable Content) für 5,49€. Zum Schluss wären da zum jetzigen Zeitpunkt noch 4 Szenarien für die nächsten Erweiterungen, die aber bislang nur auf Englisch erhältlich sind. Insgesamt also 15 Szenarien.
Dem Wahnsinn anheim
Was ich im Spiel mit mehreren Personen sehr stimmungsvoll fand, waren die Änderungen der Siegbedingungen, wenn ein Ermittler wahnsinnig wurde. Ich will nicht zu viel verraten, um euch den Spaß nicht zu nehmen, und nenne daher nur ein Beispiel:
Trotzdem ist die zweite Edition von Villen des Wahnsinns für mich das nahezu perfekte (Solo-)Rollenspielerlebnis. Als solches muss man das Spiel auch begreifen, wenn man damit Spaß haben möchte, da es eben keine großartige Mechanik gibt. Noch nie konnte ich so tief in ein Spiel eintauchen und mich von der Spannung tragen lassen, ohne eine Spielmechanik zu vermissen. Das ganze Spiel ist wie ein Theaterstück mit Szenenwechsel, in dem ich selbst die Entscheidungen für den weiteren Verlauf treffe. Zumindest gaukelt die App mir das sehr glaubhaft vor.
Mir persönlich hilft es einfach enorm, wenn ich die Szenerie nicht nur geistig vor meinem Auge habe, sondern sie real vor mir sehe. Wer steht wo, kann was untersuchen; reicht die Zeit noch, um auch noch an dieser und jener Stelle rumzuschnüffeln und Beweise zu sammeln? Da passiert einfach unheimlich viel auf der Meta-Ebene, ohne dass es in Würfelorgien ausartet oder ich andersrum zigtausend Regeldetails auswendig lernen muss. Die Regeln sind umfangreich, aber überhaupt nicht vergleichbar mit der ersten Edition.
Für mich eine ganz neue Erfahrung in diesem Genre und deswegen, trotz der genannten Mängel, 5 Sterne für die Erstpartie eines Szenarios. Ich freue mich bereits auf die „echten“ neuen Erweiterungen, von denen bisher „Jenseits der Schwelle“ auf Deutsch erschienen ist. Es wird allerhöchste Zeit, auch die Erweiterung mal unter die Lupe zu nehmen.[taq_review] [/author]